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Trommler und Götter


TROMMLER UND GÖTTER

Brasiliens magische Rhythmen

Szene aus dem Film Trommler und GötterAls der Mensch vor Urzeiten anfing, zu denken, als der Geist wie ein Trommelschlag in die Welt trat, da ordnete sich das Chaos zum Kosmos, da gewann das Dasein einen Sinn. Durch den Einbruch des Geistes trat etwas Neues in die Welt und darauf wurde alles qualitativ anders, weil es mit Sinn belegt wurde. Dieser Einbruch des Geistes war die ungeheuerste aller Naturkatastrophen.


Der Mensch, der den Geist, diese innere Stimme, zunächst außer sich vermutete, schrieb ihn den Göttern zu. Er unterwarf sich den Göttern und damit gleichzeitig seiner eigenen inneren Stimme. Seine erste Beziehung zum Geist war also der Gehorsam: ein aufmerksames Hören auf den Zusammenklang. Dadurch spaltete sich das Menschendasein in zwei Teile. Seither war der Mensch mit sich selbst uneins. Seitdem strebt der Mensch aber auch danach, sich mit der ursprünglichen Einheit zurückzuverbinden. Musik war für ihn dabei immer das wichtigste und effektivste Mittel.


Die Trommel ist mit das älteste Instrument der Menschheit und symbolisiert in gewisser Weise die Einheit durch das männliche und das weibliche Prinzip. Man sagt, der Klangkörper sei das empfangende, klingende, gebärende weibliche Prinzip, während das Fell das männliche, gebende, aktiv-schlagende, eindringende, erzeugende Prinzip sei. Das weibliche trägt den Klang aus, gibt ihm Farbe, Seele; und das männliche bringt den Stoff, das Material, den Impuls für den erzeugenden Ton. Fell und Trommelkörper bilden ein Ganzes. - Von daher kommt der Trommel in allen ursprünglichen Religionen eine besondere Bedeutung zu.


Es sollte nicht Absicht der Dokumentation "Trommler und Götter" sein, Musik, wie gewöhnlich, als passiv zu konsumierende Virtuosenkunst zu präsentieren; sondern der Film soll Musik eher als ein antikes Mittel des Menschen darstellen, sich durch aktives musikalisches Erleben selbst zu finden. Vor dem bunten Hintergrund des überaus regen Musiklebens in der brasilianischen Stadt Salvador, soll der Film versuchen zu zeigen, wie durch Musik auch heute noch Rückverbindung zu jener 'verlorenen Einheit' des Menschen geschaffen wird. Rück- oder wiederverbinden ist das "re-ligere", das was Religion ursprünglich bedeutete. Diese ehemalige Heil-Funktion weist auf die immanenten religiösen Ursprünge der Musik hin.


Die Cidade do São Salvador da Bahia de Todos os Santos (Stadt des Heiligen Erlösers in der Bucht aller Heiligen), wie Salvador vollständig heißt, war seit 1549 für mehrere Jahrhunderte die politische Hauptstadt Brasiliens. Bis heute ist sie die kulturelle Hauptstadt des Landes geblieben. - Man nennt Salvador auch das "Schwarze Rom", weil ihre Bevölkerung zu über 80 Prozent aus Schwarzen und Mulatten besteht, und weil es hier 365 christliche Kirchen gibt, während gleichzeitig die westafrikanische Naturreligionen in mindestens 2.000 Kultstätten fortbestehen. Die Pflege und Weiterentwicklung afrikanischer Ur-Rhythmen, besonders auf der Trommel und auf anderen Perkussionsinstrumenten, wurde in neuerer Zeit zum Fundament für viele musikalische Bewegungen, deren bekannteste die Samba und die Bossanova geworden sind.


Die afrobrasilianischen Religionen wurden wegen ihrer angeblichen Vermischung christlicher und afrikanischer Elemente oft synchretistisch genannt. Es hat aber eigentlich nie eine Vermischung der Religionen stattgefunden. Dieses Phänomen ist eher wie eine Münze mit zwei verschiedenen Seiten zu betrachten: auf deren einer Seite befindet sich ein orixá (ein afrikanischer Heiliger/Gott) und auf deren anderer ein katholischer Heiliger. Beide sind miteinan-der identisch geworden, und diese Münze kann wie ein Code je nach der Situation beliebig umgedreht werden. Beim Kontakt des Katholizismus mit den verschiedenen Formen des candomblé kam es also nur zu einer oberflächlichen sprachlichen Umbenennung oder Gleichsetzung, die sich nicht auf die Inhalte erstreckte.


Der afrobrasilianische candomblé ist ein mündlich überlieferter Kult, der in Salvador und in ganz Brasilien auf Literatur, Popularmusik, Kunst und vor allem auf den Karneval gewirkt hat. Die Musik im Candomblé muß vom rituellen Kontext her verstanden werden. Kein Trommelschlag, keine Bewegung ist zufällig, sondern Teil einer durchdachten Choreographie. Für den unerfahrenen Beobachter stellt sich dieses Szenario als ein ungeordnetes Durcheinander dar, was nicht zuletzt zu falschen Interpretationen geführt hat und somit teilweise zur Ablehnung und Ausgrenzung afrikanischer Kulturwerte. Die Dokumentation " Trommler und Götter " will versuchen, die komplizierte Ordnung des Kultes vom musikalisch-rhythmischen Geschehen her zu erhellen. Dabei spielen die drei Trommeln Rum, Rumpi und Lé eine Hauptrolle. Die erste Trommel, die spielt, weckt auf, die zweite macht hellwach und die dritte ruft, denn die Heiligen (orixás, santos) sind Tote, und sie steigen aus der Erde empor. Wenn man die Trommeln spielt, dann erheben sich alle Toten und die Heiligen (santos) kommen. Die Trommeln schaffen eine Verbindung zum Jenseits, zur Götter- oder Vorfahrenwelt, von der man sich Heilung oder Lösung diesseitiger Probleme verspricht. - Diese an sich magische Funktion der Trommeln findet in der Karnevals-Exstase ihr profanes Pendant.


Wir Europäer sind es gewohnt, den Rhythmus vom Gehör her zu erfassen, die Afrobrasilianer hingegen von der Bewegung. Exstase im wahrsten Sinne des Wortes. Die musikalische Dokumentation " Trommler und Götter " will Trommler-Tanzgruppen aus Salvador vorstellen, die mit Tanz und Perkussionsinstrumenten versucht, die Geschichte Brasiliens darzustellen. Geschichte, die heute unter ganz anderen Aspekten gesehen werden kann: so weiß man zum Beispiel jetzt, daß die Portugiesen schon lange vor der offiziellen Entdeckung eine geheime Kenntnis von der Existenz und von der geographischen Lage Brasiliens hatten. Machtpolitische Gründe zwangen sie allerdings dazu, dieses Wissen jahrelang als Staatsgeheimnis zu verschweigen. Und als die Entdeckung offiziell vor genau 500 Jahren statt-fand, da wurde dieses doch so welthistorische Ereignis kaum bemerkt.


Die Geschichte der nachfolgenden Kolonisation Brasiliens, ist eine Geschichte von Habsucht! Das nie endende Mehr-Haben-Wollen. Habsucht, so zeigt uns die Trommlergruppe im Tanzspiel, verschlingt alles - am Ende auch den Habsüchtigen. Deshalb verarmte Portugal und auch Spanien mit so übernatürlicher Geschwindigkeit am eingeführten Gold. Die spanischen und portugiesischen Eroberer waren Abenteurer, Spieler, zuchtlos, tollkühn, phanta-stisch, verschwenderisch, unverantwortlich und unersättlich. Sie waren so, weil ihnen jedes Bedürfnis nach Sicherung fehlte. Ganz im Gegensatz zu Nordamerika. Dort waren die ersten Besiedler keine Räuber, sondern fromme Männer, die ein Gottes-Reich auf Erden gründen wollten! - Bei ihnen hatte der Gedanke an Sicherung immer mehr Vorrang. Spaniens und Portugals Habsuchts-Karma hat sich schließlich ausgelöscht, während in Nordamerika, zwecks eigener Sicherung, der Wille zur Vernich-tung anderer immer stärker wurde.


Die afrobrasilianische Trommel-Tanz-Gruppe von Marcio Meirelles vereinigt Musiker und Tänzer der verschiedenen "Schulen". Die Mitglieder der Gruppe wollen die starke Erdbindung der Ureinwohner Brasiliens darstellen. Ihnen selbst, als Nachkommen der afrikanischen Sklaven, die über drei Jahrhunderte als "schwarzes Elfenbein" gehandelt wurden, ist es ein Ideal, in Harmonie mit der Erde zu leben. Der Afrikaner brachte ja seine Heimat mit nach Brasilien. Auch er strebt danach im Rhythmus der Erde mitzu-schwingen. Deswegen kennt er keinen Fortschrittswillen, der den Ur-Rhythmus ändern sollte.


Der Afrobrasilianer hat eine andere Perspektive gegenüber der Wirklichkeit: die von der Erde her. Da sieht alles anders aus, als vom Geiste her gesehen. Alle Geburt erfolgt aus der Erde heraus. Alles Entstehen ist schmutz- und grauenbehaftet. Das Böse liegt allem Guten als seine offenbar notwendige Unterwelt zugrunde. Da nützen keine moralischen Erwägungen. Diese Paradoxie, der ganze Wahnwitz des Ideals der Reinheit, wird im brasilianischen Urwald klar, wo man kaum feststellen kann, wo das Sterben aufhört und das Geborenwerden beginnt. Zersetzung, Fäulnis, Gestank sind Begleiterscheinungen der Vermehrung. Das nordamerikanische Bestreben, die Erde endgültig zu entschmutzen, bedeutet unmittelbaren Widersinn. Solange es Geburt und Tod gibt, kann das irdisch verstandene Reinheitsideal niemals verwirklicht werden. Der Brasilianer weiß das und lebt damit. Er hat an anderer Stelle als der Europäer in das Lied der Geschichte eingestimmt. Das ergibt eine grundverschiedene Melodie und einen anderen Rhythmus. Das Gute und das Schlechte schließen sich im Denken des Afrobrasilianers nicht so einander aus, wie wir es in unserer westlichen Denkweise gewohnt sind. Gegensätze werden in Brasilien zusammen gedacht und erlebt. Sie sind eine Einheit. Freude und Trauer kann musikalisch gleichzeitig dargestellt werden.

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PROBEAUFNAHMEN IN RIO DE JANEIRO

BRASILIEN, 59', DV Cam, Farbe
Produktion: Brintrup/LICHTSPIEL/WDR/TVE Bahia

DARSTELLER Vinícius Nascimento, Cristóvão da Silva, Virgínia Rodrigues, Caetano Veloso, Edlo Mendes, Ipojucan Dias, Miller Fragoso, Paolo Ferreira, Fernando Lopes u.a
MUSIK Aldo Brizzi, Arnaldo Antunes, Carlinhos Brown
TROMMLERGRUPPEN Terra em Transe, Banda do Bairro da Paz, Kissukila, Banda Swingue do Pelô
TANZ Antônia Ribeiro da Silva, Vera Passos, Leonardo Luz
KAMERA Joaquim Waldyr Dal Moro Filho, Jorge Alvis
TON Hubrecht Nijhuis
TONMISCHUNG Francesco Sardella
AUFNAHMELEITUNG Luciana Vasconcelos
BUCH Georg Brintrup, Mario Di Desidero
REGIE / SCHNITT Georg Brintrup
REDAKTION Rudolf Heinemann
PRODUKTION Brintrup-Film, Roma; TV BAHIA; Lichtspiel Entertainment GmbH, WDR
PREMIERE Goethe Institut, Salvador Bahia, am 25.9.2001
ERSTSENDUNG WDR 13.01.2002
WIEDERHOLUNGEN WDR 3.10.02 / 24.5.06 / HR 4.8.02 / SWR 18.8.02 / 3sat 13.2.05 / TVE Bahia 29.9.2001
Galerie mit Fotos aus dem Film